Der konservative Moskauer Politologe Vitali Tretjakow (links) im russischen Staatsfernsehen „Rossija 1“. “Wo ist unser Sieg?” er fragt. Ist ein verwundeter Präsident Putin gefährlicher als ein siegreicher Präsident Putin, der Russland im Februar einen schnellen militärischen Sieg über die Ukraine versprochen hat? Noch vor wenigen Tagen kaum vorstellbar, passiert nun in Russland das Undenkbare: Präsident Wladimir Putin (69) steht unter Druck – in seinem Land, wo die geringste Kritik am Regime meist hart bestraft wird. Auslöser: Wie die Ukraine das mächtige Russland austrickste. Wochenlang protestierte Kiew gegen die Rückeroberung des Südens. Dann, in einem Blitzschlag, zogen ukrainische Truppen stattdessen nach Norden. Völlig überrascht flohen Russen vor ihren Gesichtern. Russische Politiker und Experten kritisieren nun erstmals öffentlich den Kriegspräsidenten – und es kommt zu keinen Verhaftungen. Selbst im russischen Staatsfernsehen sind nicht mehr nur patriotische Propaganda, Siegesrufe und Verurteilungen des Westens zu hören. Erstmals stellen Politiker und Experten die offizielle Version des Kreml in Frage. Der allmächtige und unbesiegbare Putin zeigt Risse.
Die Antikriegsbewegung wächst
Im russischen Staatsfernsehen finden erstmals Debatten statt: zwischen Hardlinern, die in der Ukraine eine noch härtere Hand von Putin fordern, und Gemäßigten, die den Kreml zu Friedensverhandlungen auffordern. Auch russische Putin-Loyalisten sind besorgt. Das Lager der Antikriegsbewegung wächst, besonders unter der städtischen Jugend. Der gescheiterte Marsch auf Kiew nach Kriegsbeginn wurde in Russland mit Achselzucken aufgenommen. Doch die Tatsache, dass 200 Tage nach Kriegsausbruch Ukrainer vor russischen Soldaten fliehen, bringt den fernen Krieg direkt nach Moskau: Das russische Herz muss mit Erstaunen hinnehmen, dass sich der Kriegskurs gegen den Kreml wendet.
Zweifel an Putins Ideologie
Als am Freitag die russische Front im Nordosten der Ukraine zusammenbrach, sagte der russische Kommunalpolitiker Boris Nadezhdin im staatlichen Sender NTV das Unaussprechliche: Moskau kann diesen Krieg unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht gewinnen. „Wir sind jetzt an einem Punkt angelangt, an dem wir verstehen müssen, dass es absolut unmöglich ist, die Ukraine mit den Mitteln und Methoden der Kolonialkriegsführung zu besiegen, mit denen Russland zu kämpfen versucht“, sagte Nadezhdin. “Die russische Armee kämpft gegen eine mächtige Armee, die von den mächtigsten Ländern wirtschaftlich und technologisch voll unterstützt wird.” Russische Experten verzweifelt: “Absolut unmöglich, die Ukraine zu besiegen” (01:40) Nadezhdin will Friedensverhandlungen. Andere Studiobesucher widersprachen entschieden. Schließlich kann Russland seinen existenziellen Kampf gegen die NATO nicht aufgeben. Er stellte auch das wichtigste ideologische Argument in Frage, mit dem Putin die Invasion rechtfertigt: dass Russen und Ukrainer eine Nation sind.
“Wo ist unser Sieg?”
Ein Studiogast meinte, Russland akzeptiere nicht einmal die Existenz einer eigenen ukrainischen Sprache, geschweige denn eines ukrainischen Volkes. Die Ukraine hat sich gegen Russland verbündet, also Einsicht. “Wir müssen die Ukrainer als ernsthaften und gefährlichen Gegner behandeln”, sagte Politikdozent Alexej Fenenko. Der konservative Politologe Vitali Tretjakow (69) warnte letzte Woche vor Unruhen in seinem Land, falls die Russen merken, dass ihr Land sie verliert. “Das Vertrauen in unseren Sieg ist riesig”, sagte der im Fernsehen begrüßte Studiogast dem staatlichen Fernsehsender “Rossija 1”. “Aber dieses Vertrauen sollte durch echte Fortschritte untermauert werden.” “Wo ist unser Sieg?” fragte Tretjakow. Ohne militärische Fortschritte in der Ukraine wird die russische Bevölkerung anfangen, am eigenen System zu zweifeln. Tretjakow warnte: “Ohne Sieg können soziale Spannungen entstehen.” (Jawohl)