In der Region Charkiw griffen ukrainische Soldaten die russischen Besatzer mit von den USA gelieferten M777-Haubitzen an. Explosionen auf der Krim, Anschläge in Cherson: Der Kriegsschwerpunkt in der Ukraine lag in den vergangenen Tagen im Süden des Landes. Präsident Wolodymyr Selenskyj (44) hatte auf allen Kanälen angekündigt, in diesem Bereich einen Gegenangriff zu starten. Doch nun schlugen die Ukrainer unerwartet im Osten zu und gewannen nach eigenen Angaben rund 2.000 Quadratkilometer hinzu. Dazu gehören rund 30 Städte und Dörfer, darunter die strategisch wichtigen Städte Kupjansk und Isjum, die zurückerobert wurden. Diese Rückeroberung könnte der bedeutendste Erfolg der Ukraine bei der Abwehr der Russen seit Beginn der Invasion sein. Als Ergebnis dieser Eroberungen gelang es den ukrainischen Streitkräften, die Versorgungswege der russischen Einheiten abzuschneiden. Insgesamt gewannen die Ukrainer in wenigen Tagen bei Charkiw mehr Boden gut als die Russen in ihrer monatelangen Donbass-Offensive. Russische Streitkräfte in der Region haben sich Berichten zufolge zeitweise zurückgezogen und schweres Gerät wie Panzer, Truppentransportfahrzeuge und Radarsysteme zurückgelassen.

Bereit für Monate

Ukrainische Spezialeinheiten haben Medienberichten zufolge nun eingeräumt, dass der weithin propagierte Gegenangriff im Süden ein Ablenkungsmanöver war, um vom eigentlichen Angriff im Osten abzulenken. Es soll monatelang vorbereitet worden sein. Taras Berezovets, ein ehemaliger nationaler Sicherheitsberater und derzeitiger Pressesprecher der Spezialeinheiten der Bohun-Brigade der Ukraine, sagte gegenüber dem britischen Guardian: „Russland dachte, der Angriff würde im Süden stattfinden, und verlegte seine Ausrüstung dorthin. Dann fand der Angriff nicht im Süden statt, sondern dort, wo sie es nicht erwartet hatten, was dazu führte, dass sie in Panik gerieten und wegliefen.“ Russland soll 1.300 der gefürchteten tschetschenischen Kämpfer in den Süden verlegt haben. Ausrüstung und Soldaten aus Charkiw wurden ebenfalls nach Süden verlegt. Beresowez: „Inzwischen sind unsere Männer in Charkiw mit den besten westlichen, vor allem amerikanischen Waffen ausgestattet.“

Das Blatt wendet sich

Auch das britische Verteidigungsministerium berichtete, die Russen seien von den Ukrainern überrascht worden. „Während die ukrainischen Operationen in Cherson fortgesetzt werden, steht die russische Verteidigungsfront sowohl an der Nord- als auch an der Südflanke unter Druck“, hieß es. Der dienstfreie australische General Mick Ryan twitterte, dass die Ukraine sowohl taktisch als auch operativ die Initiative ergriffen zu haben scheint. Der Krieg sei noch lange nicht vorbei, “aber vielleicht wendet sich das Blatt endlich.” Mehr zum Erfolg der Ukrainer ETH-Militärexperten sagten gegenüber Blick vor einigen Wochen, die Ukraine habe das Blatt gewendet und schließe nicht aus, alle von den Russen besetzten Gebiete zurückzuerobern. Der britische Militärhistoriker Lawrence Findman schließt in seinem Newsletter nicht einmal aus, dass die russische Kriegsmaschinerie in naher Zukunft zusammenbricht. Eine vermeintlich starke und gut ausgerüstete Armee könne zusammenbrechen und nach Fluchtwegen suchen, schreibt er und verweist auf die binnen Wochen aufgelöste afghanische Armee. Allerdings ist nicht sicher, ob und wie lange der Erfolg der Ukrainer tatsächlich anhalten wird. Der deutsche Politologe und ehemalige Präsident der Gesellschaft für politische Sicherheit, Johannes Varwick, twitterte: „Meiner Meinung nach ändern Erfolgsmeldungen über ukrainische Militärerfolge nichts am großen Bild: Russland hat (leider) die Oberhand beim Scale-up und im mittelfristig umso größer die Nachhaltigkeit.

Krieg an zwei Fronten

ETH-Sicherheitsexperte Benno Zogg (32) bezeichnet die ukrainische Initiative als «erfolgreiche Strategie». An der Front wird gekämpft, aber die Ukraine hat jetzt unerwarteterweise einen zweiten Kampfschwerpunkt um Charkiw herum aufgebaut. Betrachtet man die letzten Monate insgesamt, gibt es einen leichten ukrainischen Vorteil, aber insgesamt nur einen begrenzten Bodenwechsel. Zog hat Bedenken: “Erobertes Gebiet muss auch gehalten und gegen Gegenangriffe gesichert werden.” Zog glaubt nicht, dass der russische Präsident Wladimir Putin (69) die Situation eskalieren könnte. Zogg: „Es ist durchaus verständlich, dass es in Moskau und im russischen Generalstab einen Schock geben wird. Russland wird sich vorerst aber kaum strategisch neu orientieren, auch um keine Anzeichen der eigenen Schwäche zu zeigen.” Zog glaubt auch nicht an den Einsatz von Atomwaffen. “Das Thema Atomwaffen wäre unverhältnismäßig und wenig effektiv.” Und was sagen die Russen offiziell zum Zusammenbruch? Moskau spricht von einer “Ausrichtung” seiner Truppen. Putin hat sich noch nicht zu der Blamage geäußert. Er hat andere Prioritäten: Am Samstag feierte der russische Präsident Moskaus 875. Geburtstag – und weihte Europas größtes Riesenrad mit 104 Metern Durchmesser ein.