Stand: 11.09.2022 08:22 Uhr                 

Nach acht Monaten Krieg fliehen offenbar immer mehr ukrainische Männer im wehrfähigen Alter über die grüne Grenze nach Rumänien. Anwohner berichten gegenüber ARD: Einige Männer riskierten ihr Leben. Von Florian Barth und Ahmet Şenyurt, SWR

In den rumänischen Karpaten bildet die Theiß die Grenze zwischen der Ukraine und der Europäischen Union. Seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine gilt das Kriegsrecht, und seitdem dürfen Männer zwischen 18 und 60 Jahren das Land nicht verlassen. Laut Anwohnern und rumänischen Grenzbeamten nutzt jedoch eine wachsende Zahl ukrainischer Männer im wehrfähigen Alter die Route, um in die EU zu fliehen, um der Wehrpflicht zu entgehen.

Die ukrainische Grenzpolizei meldet auf ihrer Website regelmäßig Verhaftungen von Deserteuren entlang der grünen Grenze zu Rumänien und beschlagnahmt bei ihren Kontrollen auch Zigaretten, Drogen und Waffen.

Routen in den Karpaten sind bei Deserteuren beliebt, weil das dicht bewaldete Gebiet schwer zu kontrollieren ist. Sie müssen den Grenzfluss Theiß überqueren – einige ertrinken, andere erreichen schwer verletzt die rumänische Seite, wie Anwohner und Grenzbeamte in der Gegend mitteilten.

“Gesammelt und in den Krieg geschickt”

Der 30-jährige Igor, mit dem eine Reportergruppe des SWR sprechen konnte, wählte einen anderen Weg: Er habe einen ukrainischen Grenzbeamten mit 4000 Dollar bestochen, um den offiziellen Grenzübergang nutzen zu können. Igor, der nicht will, dass sein richtiger Name veröffentlicht wird, lebt heute mit seiner Frau und zwei Kindern in der rumänischen Grenzstadt Sighetu Marmatiei und will weiter in Westeuropa reisen. Er will nicht mehr in die Ukraine zurückkehren.

Igor berichtet, dass viele Männer verzweifelt sind und wie er das Land verlassen, um der Armut und dem Militärdienst zu entkommen: „Sie kommen jeden Tag, weil die Leute kein Geld haben, viele nichts zu essen haben gesammelt und in den Krieg geschickt werden.”

Er zeigt ein Video auf seinem Handy. Die Aufnahmen sollen von einer Überwachungskamera stammen und einige Wochen alt sein. Sie zeigen offenbar einen jungen Ukrainer auf der Straße, neben dem plötzlich ein Zivilfahrzeug hält. Männer springen aus dem Auto und nehmen den jungen Mann mit. „Sie holen dich einfach ab und bringen dich in den Krieg, wo gekämpft wird“, sagt Igor leise. Er hat keinen Militärdienst abgeleistet und kann daher nicht mit einer Waffe umgehen und klagt: „Ob du mit einer Waffe umgehen kannst oder nicht – ob du kannst oder nicht, ist ihnen egal. Nach zehn Tagen Training fuhr man an die Front. Das ist seinem Cousin passiert.

Immer wieder ertrinken Flüchtlinge

Normalerweise ist die Theiß ein reißender Fluss, bis zu dreißig Meter breit und sechs Meter tief. Nach wochenlanger Dürre ist er heute nur noch wenige Meter breit und auch für Nichtschwimmer gut zu überqueren. Aber immer wieder sterben Männer bei der Flucht aus dem Grenzfluss Tisa, sagt Roman, der seinen Familiennamen nicht nennen will.

Er lebt im Dorf Lunca la Tisa auf der rumänischen Seite der Grenze. “Es gab Fälle, in denen Männer ertranken. Der Krieg begann in diesem Frühjahr, und der Fluss war damals viel tiefer. Die Zeitung Stiripesurse berichtete wiederholt über solche Todesfälle”, sagt Roman. Die Ukrainer riskierten ihr Leben, obwohl sie anscheinend nicht schwimmen konnten.

                Im Interview mit dem ARD-Team berichtet Roman von ukrainischen Männern, die klatschnass in der Stadt ankommen und um Hilfe bitten.  Bild: Florian Barth und Ahmet Şenyurt

Roman zeigt seinem Handy ein Bild des Mannes, den seine Familie seit fünf Monaten sucht. Das ist der 36-jährige Juri. Er soll im Frühjahr versucht haben, hierher zu gelangen, und wird seitdem vermisst. “Zwei Frauen aus der Ukraine sind durch unser Dorf gelaufen und haben mit allen gesprochen. Sie haben allen ein Foto von Jurii gezeigt, der der Armut und dem Krieg entfliehen wollte und versucht hat, die Theiß zu überqueren. Danach hat man nichts mehr von ihm gehört”, sagt Roman.

Igors Grenzübertritt hat funktioniert, weil er Grenzwächter bestochen hat, sagt er. Ob Jurii wieder tot ist, ist unbekannt, seine Leiche wurde bis heute nicht gefunden. Es ist auch nicht bekannt, wie viele Männer diesen illegalen Grenzübertritt versuchen, scheitern und sterben.

Ukrainische Überläufer sind willkommen

Der 35-jährige Roman erzählt auch von einem Mann in seinem Alter, der kürzlich durchnässt und mit einem Rucksack auf dem Rücken im Dorf um Hilfe bat. “Innerhalb von zwei, drei Minuten tauchte die rumänische Polizei auf und nahm ihn mit.” Die Männer in Rumänien hätten nichts mehr zu befürchten, sagt Roman, und die Rückkehr in die Ukraine kenne er noch nicht. Später erhielten die Männer Dokumente, die ihren Aufenthalt in Rumänien und der EU legalisierten: “Viele bleiben nicht hier, sondern gehen nach Westeuropa”, sagt der Grenzgänger. Männer würden ihm das sagen.

Der 71-jährige Sakalos lebt 13 Kilometer östlich von Lunca la Tisa und will den Namen seiner Familie nicht nennen. Er lebt in der Grenzgemeinde Valea Vișeulu und berichtet, dass der Grenzzaun auf ukrainischer Seite in den vergangenen Monaten auf drei Meter angehoben wurde: Nato-Draht soll die Bank sichern. Auf rumänischer Seite hat die Regierung diese Grenze mit Überwachungstechnik aufgerüstet.

Mehr Flüchtlinge nach dem Gegenangriff

Die Grenzpolizei sei in der Gegend sehr aktiv und habe erst vor wenigen Tagen zwei Männer entdeckt, sagten zwei Grenzschützer, die anonym bleiben wollten. Die Männer wurden durch den Stacheldraht auf ukrainischer Seite schwer verletzt und konnten mit blutenden Wunden an Händen und Füßen über den Grenzfluss fliehen.

Dr. Christian Brad, Chefarzt des einzigen Krankenhauses in Sighetu Marmatiei, bestätigt, dass in seinem Krankenhaus verletzte Männer aus der Ukraine behandelt werden.

Nach der Gegenoffensive des ukrainischen Militärs im Donbass hat die Zahl der Männer, die die Ukraine verlassen wollen, laut Grenzbeamten zugenommen. Sie vermuten…