BILD am SONNTAG: Frau Bas, was macht den Menschen Sorgen, wenn Sie Familie, Freunde, Wähler in Duisburg treffen?
Bärbel Bass: “Ich fühle mich sehr unsicher. Wir Abgeordneten haben sie übrigens auch. Niemand kann derzeit mit Sicherheit vorhersagen, vor welchen Herausforderungen unser Land und Europa stehen werden. Mit Russlands Angriffskrieg, der Energiekrise und dem Coronavirus haben wir drei Krisen gleichzeitig. Derzeit beunruhigt vor allem der Preisanstieg die Welt. Bei meiner Reinigung hat mir ein Rentner gesagt, dass die Nebenkosten um 50 Euro steigen. Er weiß nicht, wie er das bezahlen soll. Schon so kleine Beträge bringen viele Menschen in Not. Diese Frau erwartet, dass die Politik ihr hilft.”
Bas spielte selbst Fußball und hat als Anhänger des MSV Duisburg Fanartikel im Vorsitzendenbüro
Foto: ©Niels Starnick/Image/BamS
Laut einer aktuellen Umfrage glaubt nur noch eine Minderheit, dass der Staat die großen Probleme lösen kann.
Bass: „Was wir in der Politik als notwendigen Konflikt ansehen, um einen Kompromiss zu finden, beschäftigt zunehmend die Bürgerinnen und Bürger. Sie erwarten eine größere administrative Verantwortung und schnellere Lösungen. Auch die politische Sprache ist ein Grund. Es geht nicht darum, Menschen nachzuplappern, aber wir brauchen eine klarere, verständlichere Sprache. Dann gibt es die Corona-Politik. Das Hin und Her hat Entfremdung geschaffen, die Widersprüche kosten Vertrauen.”
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Glauben Sie, dass das dritte Hilfspaket ausreicht, um Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen über den Winter zu bringen?
Bass: „Es ist eine gute Botschaft, dass Menschen geholfen wird. Derzeit ist unklar, wie sich Inflation, Krieg und Energieversorgung weiter entwickeln werden. Um mit dem Schlimmsten fertig zu werden, insbesondere für Menschen mit niedrigem Einkommen, müssen wir bereit sein, mehr zu tun, wenn die Krisen andauern.”
Armut kennen Sie seit Ihrer Kindheit. Was ist das Schwierigste daran, arm zu sein?
Bass: „Nicht am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Viele Menschen in Deutschland können schon lange nicht mehr spontan ins Restaurant gehen oder einen Film im Kino anschauen. Viele Senioren fragen sich, ob sie sich ein Stück Kuchen beim Bäcker leisten können, weil sonst ihre Rente nicht bis zum Monatsende reicht. Ich finde es dramatisch.”
Ich brauche verdammte Bücher, das ist die beste Art, mich abzulenken
Warum zahlt die Regierung dann 300 Euro an alle, anstatt tatsächlich den Armen zu helfen?
Bass: „Es ist schwierig, faire Einkommensgrenzen für Hilfen festzulegen. Die Koalition will auch Mittelverdiener entlasten. Aber eines weiß ich: Die ganz oben, und ich gehöre dazu, brauchen dieses Geld nicht. Ich würde mir mehr Differenzierung wünschen, um gezielt den Schwächsten zu helfen.”
Was ist mit Menschen, die sich schon immer selbst versorgen konnten und nun wegen explodierender Strom- und Gaspreise auf staatliche Unterstützung angewiesen sind?
Bass: „Niemand will Bittsteller im Büro sein. Das nagt am Selbstbewusstsein. Unser Ziel sollte sein, dass niemandem in diesem Winter der Strom oder die Heizung abgestellt oder gar aus der Wohnung geräumt wird, weil er unverschuldet die Rechnungen nicht bezahlen kann. Wer dagegen in dieser Krise als Gewinner vom Feld geht, muss auf einen Teil seiner Gewinne verzichten. Es ist eine Frage der Fairness, dass diese Glücksfälle verschwinden.”
Wie oft hörst du “Du da oben…”?
Bass: “Oft. Leider.”
Sie sind die zweite Frau im Land. Ihr Büro ist 60 Quadratmeter groß.
Bass: „Und das ist größer als meine Wohnung in Berlin, wo ich auf 42 Quadratmetern lebe. “(lacht)
Leidenschaft für Motorräder: Bas in jungen Jahren. Heute fährt er Harley-Davidson
Foto: Bärbelbas.de
Wie sehr hat Ihre neue Position Ihr Leben verändert?
Bass: „Die Leute fragen mich jetzt öfter: Darf ich dich noch mit deinem Vornamen ansprechen? Ja, natürlich, sage ich dann. Ich möchte, dass die Leute ohne Distanz mit mir sprechen.”
Politik wird von vielen Bürgern als zurückgezogen empfunden. Parlamentarier fordern ständig Einsparungen, aber der Bundestag spart nicht von sich aus. Mit 736 Mitgliedern ist es das zweitgrößte Parlament der Welt.
Bass: „Sie kennen das Sprichwort, dass Frösche nicht gerne ihren eigenen Teich entleeren – insofern ist das ein heikles Thema. Aber jetzt muss die Zahl der Abgeordneten reduziert werden. Bei den nächsten Wahlen müssen wir zu einer akzeptablen Größe zurückkehren, maximal 598 Abgeordnete. Wir brauchen die Kappe.”
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Unterstützen Sie den Ampelvorschlag zur Wahlrechtsreform, auch wenn die Union dagegen wütet?
Bass: „Natürlich wünsche ich mir bei einer Reform des Wahlrechts eine möglichst breite parlamentarische Mehrheit. Um ehrlich zu sein, wenn wir warten, haben wir vielleicht keine Wahlreform mehr. Das würde niemandem helfen. Deshalb ist mir letztlich wichtig, dass wir zu einer Reform kommen. Wenn dies von einer breiten Mehrheit unterstützt wird, umso besser.”
Um das Schlimmste zu verhindern, müssen wir bereit sein, mehr zu tun
Cool: Auf deiner Homepage als Abgeordnete listest du deine Lieblingsbücher auf. Kein Goethe, kein Schiller, kein philosophisches Werk, sondern Thriller von Stieg Larsson und Stephen King. So „normal“ ist fast kein Politiker.
Bass: „Ich habe sogar Carl May gelesen. (lacht) Warum vorgeben, eine andere Persönlichkeit zu sein, nur weil es auf der Homepage gut aussieht? Natürlich musste ich in der Schule viele Klassiker wie Goethe oder Schiller lesen. Aber ich brauche verdammte Bücher, das ist der beste Weg, mich vom Alltag abzulenken.”
Als drittes Buch empfehlen Sie „Der Arschlochfaktor: Mit Prahlern, Intriganten und Despoten im Unternehmen gekonnt umgehen“. Wie lautet dein Rat?
Bass: „Wahrscheinlich passiert es jedem bei der Arbeit, dass man solche Leute trifft. Für Frauen ist es besonders wichtig, sich nicht aufregen zu lassen. Ich habe oft die Taktik gesehen, andere durch Prahlen zu schikanieren. Solche Typen gibt es überall. Meine Erfahrung: Am Ende kocht alles nur noch mit Wasser. Also: Cool bleiben, Witze treiben lassen und das Verhalten nicht ernst nehmen. Wenn Schlimmes passiert: Richtig damit umgehen, dann gibt es eine klare Antwort.’
Foto: BILD
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