Nationalrat und Unternehmer Fabio Regazzi (60) in der Brötchenproduktionshalle in Gordola. 2023 soll der gebürtige Tessiner für seinen mittelständischen Betrieb eine Million Franken für Strom bezahlen. Der Schock sitzt tief. Gut zwei Wochen ist es her, dass der Brief der Società Elettrica Sopracenerina (SES) nach Hause flog. Doch der Geschäftsmann aus Gordola TI hat die Nachricht noch nicht verdaut. „Als ich den Umschlag öffnete und den Kostenvoranschlag las, dachte ich, es wäre ein Schreibfehler“, sagt Fabio Regazzi. «Mein Stromanbieter will für das nächste Jahr fast eine Million Franken. In diesem Jahr betrugen die Stromkosten nur 60’000 Franken. Selbst wenn du mir eine Waffe an die Brust hältst, kann und will ich keine Million zahlen.” Ein Anruf beim Stromanbieter SES bestätigt den unglaublichen Preisanstieg: Der Freiverkehrspreis ist um 1600 Prozent gestiegen! «Das wäre so, als würde ein Liter Benzin an der Tankstelle plötzlich 25 Franken kosten», sagt Regacci.
Unternehmer tappten in die Falle des freien Marktes
Das Unternehmen von Regazzi beschäftigt 140 Mitarbeitende und erzielt einen Jahresumsatz von rund 25 Millionen Schweizer Franken. Strom wird für Produktion, Beleuchtung, Heizung, Lackiererei und Büros verbraucht. „Wenn ich keine Lösung finde, muss ich Stellen abbauen. Aufgrund gestiegener Materialkosten haben wir die Preise bereits angehoben. Mehr geht nicht“, klagt der Politiker. „Aber wo bekomme ich billigeren Strom? Die meisten Stromanbieter machen kein Einzelangebot mehr.” Fabio Regacci ist in die Falle des freien Marktes geraten. 2009 wurde der Strommarkt für Unternehmen mit einem Jahresverbrauch von mehr als 100.000 Kilowatt liberalisiert. „Unser Unternehmen ist seit Bestehen, also seit 75 Jahren, Kunde von SES. Das Angebot des sogenannten freien Marktes war attraktiv, also haben wir uns darauf gestürzt. Aber ich habe nie den Lieferanten gewechselt oder international nach günstigeren Preisen gesucht. Ich hatte keine Ahnung, dass uns so etwas bedrohen könnte.”
„Es drohen Insolvenz und Stellenabbau“
Regacci hat immer Mehrjahresverträge unterschrieben. «Jetzt ist der Vertrag ausgelaufen und ich habe ein Angebot bekommen», sagt der Tessiner. Er habe schon im März nachgefragt, „da war der Preis schon fünfmal so hoch wie im Vorjahr. Also beschloss ich, abzuwarten und zu sehen, in der Annahme, dass die Preise wieder fallen würden.” Doch das Gegenteil passiert, im Gegenteil, die Preise sind astronomisch hoch. Als Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGV) ist auch Fabio Regazzi tief besorgt. „Der Preisschock trifft viele kleine und mittelständische Betriebe wie Restaurants und Bäckereien. Sie können die Rechnung nicht bezahlen. Es drohen Insolvenzen und Arbeitsplatzverluste», sagt Regazzi. “Jetzt muss die Politik schnell handeln.”
Auch Hotelier Fernando Brunner ist geschockt
Im Tessin erhielten 40 KMU eine ähnliche Bewertung vom SES. SES bestätigt, dass der Preis auf dem freien Markt in diesen Monaten um das 15- bis 20-fache gestiegen ist. Gut 90 Prozent der Kunden haben fristgerecht neue Verträge abgeschlossen, zehn Prozent müssen nun in den sauren Apfel beißen. Wer den grundtariflich geregelten Dienst verlassen hat, darf nicht zurückkehren. Das hat die Eidgenössische Elektrizitätskommission (Elcom) entschieden. Geschützt sind dagegen alle Unternehmen, die noch nie Strom am freien Markt bezogen haben, sowie alle Privathaushalte, die noch nie dereguliert wurden. Strom würde nach Tarif abgerechnet und der Preis habe sich nur um 18 Prozent erhöht. Fernando Brunner (73) bedauert heute den Schritt in die freie Marktwirtschaft. Der gebürtige Tessiner betreibt in Locarno TI und Lugano TI vier Hotels und je ein Restaurant. Bisher kostet Strom rund 200’000 Franken im Jahr. «Nun werden über 900’000 Franken beantragt», sagt Brunner. „Die 30-prozentige Preiserhöhung wäre geschultert worden. Aber wir schaffen nicht annähernd 500 Prozent. Wir sollten die Zimmerpreise um 50 Franken pro Nacht erhöhen. Kein Besucher wird das tun.“ Wie Fabio Regatzi ist der Hotelier schockiert und verloren. Eines wissen beide bereits: Sie werden den neuen Vertrag nicht unterschreiben.